DO., 10. November 2022 im FORUM Bielefeld
Einlass: 19.30 Uhr – VVK 15,00 € (zzgl. VVK-Gebühr) | AK 19,99 €
Tickets gibt es im Kooky Record Shop an der Arndtstraße 36
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Dÿse – »Widergeburt«
Flüstern, Grollen, Scheppern, Abfahrt. Von der emotionalen wie detailgeladenen Musik des Berliner Noise-Rock-Duos mag man sich zwar immer wieder gern niederstrecken lassen, doch es geht hier um so viel mehr als um bloße Überwältigung. Das neue Album „Widergeburt“ verdichtet das Prinzip Dÿse dabei wie noch nie – ein Ameisenhaufen aus großen, kleinen und verdammt abgedrehten Ideen.
Ein einzelner Mann stellt sich dem anrollenden Panzer in den Weg. Mensch gegen Kriegsmaschine. Die Kräfteverhältnisse könnten kaum ungleicher sein. Und doch… der Panzer stoppt. „Tankman“ wird er in dem Dÿse-Stück „Laicos Neidem“ genannt, dessen Text unter anderem auf dieses ikonische Bild vom Aufbegehren der Studierenden in Peking 1989 referiert. Ein Bild, das um die Welt ging. Also nach damaligen Verhältnissen, also Tagessschau, Zeitungen, Illustrierten – alles mehr oder weniger zeitversetzt. Analoge Schneckenpost eben. Welch intervenierende Kraft allerdings hätten diese Bilder aus Peking wohl heute zu Zeiten Social Media gehabt? Hätte die damit verbundene Öffentlichkeit das Überrollen des Aufstands verhindert? Oder panzert Social Media viel eher im Hier und Jetzt ein respektvolles Miteinander nieder?
Fragen, auf die man beim diesem Album gefasst sein muss. Vorgegebene Antworten zum Ankreuzen in Kästchen gibt‘s woanders. „Widergeburt“ dagegen ist die multiperspektivische Noiserock-Intervention des neuen Jahrzehnts.
Aber noch mal von vorn: Dÿse, das sind Jarii van Gohl und Andrej Dietrich. Mit ihrer Gründungsgeschichte sollte man sich nicht lange aufhalten, im Zweifel stimmt sie ohnehin nicht. Selbst auf Wikipedia finden sich eher fragwürdige Legenden über das Kennenlernen der beiden, klingt alles mehr nach Seemannsgarn statt nach belastbaren Hard Facts. Sie hätten eine gute Geschichte schon immer der musikhistorischen Auskunftspflicht vorgezogen, sagt Andrej Dietrich entschuldigend. Wobei es allerdings nicht wirklich so aussieht, als täte ihm das Besonders leid. Warum sollte es auch?
Dÿse, das ist diese Band mit dem komischen Umlaut, sie nahm in den Nuller Jahren in Jena ihren Ausgang, mittlerweile leben Andrej und Jarii in Berlin.
Beschäftigt man sich mit der Musik der beiden gelangt man immer wieder an die zentralen Eckpunkte: Haltung, Intensität, D.I.Y., Live, Energie.
Darüber hinaus irritieren Dÿse gern das System, auch das eigene, und würden nicht ohne den mitgelieferten Humor funktionieren. Soviel zur Ausgangsposition, wer wirklich noch mehr Hard Facts braucht, möge bitte ein Crowdfunding für ein Dÿse-Biopic ins Leben rufen.
Im Mittelpunkt soll das Jetzt stehen, sieben Jahre nach „Das Nation“ nun das neue Album. Darauf haben Dÿse, dieses Duo ohne Bass-Spieler, ihrem Missing Link auf ein kleines Denkmal gesetzt. Hallo Bassist! Der fehlt dem Duo schon immer – mit voller Absicht. „Trotzdem wollten wir natürlich auch diesmal das Frequenzspektrum abdecken“, sagt Jarii van Gohl. Auch diesmal sollten die Aufnahmen nicht ohne Bass-Spuren auskommen. Dÿse haben sich dafür an befreundete Bassisten gewandt und um Beiträge zu den neuen Stücken gebeten. Der Bassist also als Ehrengast?
Ja.
Honig auf die Wunden, denn man weiß doch, wie sparsam der Bass sonst in einer Band mit Aufmerksamkeit bedacht wird. Bei Dÿse knüpfen also zehn unterschiedliche Bassisten an die Songs an. Bassisten, die sonst u.a. Beatsteaks, Deichkind, Kraftklub, Vizediktator, Heaven Shall Burn bis hin zu Rammstein spielen. Ach ja, und auf „Alles ist meins“ hört man Farin Urlaub am Bass – der bei den Ärzten, so genau sollte man sein, gemeinhin ja eher Gitarre ist.
Ein solches Open-Source-Konzept gab es vorher noch nicht, aber für Dÿse ist das Kollektiv-Bewusstsein dennoch nichts Neues. Das Album „Das Nation“ trug diesen bandeigenen Pluralismus ja bereits im Namen – und auch in der Musik.
So hat man auch „Laicos Neidem“ das erste Video, genutzt, mit Leuten zusammenzukommen, mit dem Dÿse-eigenen Ziel, gemeinsam mehr als die Summe der einzelnen Teile zu sein. Schlagzeuger und Sänger Jarii van Gohl allerdings zerlegte es dabei fast in Einzelteile. „Ich habe früher Breakdance gemacht – und war der Überzeugung, ich muss mich nicht aufwärmen. In Folge dessen habe ich mir das Knie verdreht. Meniskusschaden.“ Auweia. „Aber Schlagzeugspielen geht schon wieder“, schickt er zur Beruhigung hinterher. Na, dann. Dem Clip sieht man diese fiese Facette zum Glück nicht an, er beschwört eher Blockparty- Atmosphäre herauf, wie man sie von einem 80er-Jahre Kultfilm wie „Beat Street“ kennen kann.
Die größte Leistung von „Widergeburt“ dürfte allerdings sein, dass diese entfesselte Energie, die ihre Live-Auftritte zu einer Mischung aus Auffahrunfall und Ekstase werden lässt, noch nie unmittelbarer auf Band gepresst wurde. Wer Dÿse schon mal live erlebt hat, weiß, was dieser letzte Satz für eine Verheißung darstellt…
Text: Linus Volkmann
Support: Speedhippie aus Bielefeld